Die Bundesregierung hat wochenlang nicht reagiert, als die Pandemie hätte bereits erkannt werden können. In Ischgl/Österreich haben die Behörden tagelang nicht reagiert, als die ersten Covid-19-Fälle bestätigt wurden und von da wurde die Pandemie in ganz Europa verteilt und die massiven Lockdowns bzw. Shutdowns ausgelöst.
Jetzt, nur vier Monate später, haben wir den gleichen Fall bei Tönnies/Nordrhein-Westfalen, wo ebenso wochenlang nicht reagiert wurde.
«Am 31. Dezember versendet das internationale Frühwarnsystem ProMED eine E-Mail. (…) Für einen solchen Fall hatte die Bundesregierung eine Art Blaupause – ein Papier aus dem Jahr 2012. Titel: ‹Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz›. Darin steht, was im Falle einer Pandemie zu tun ist: Schulen schließen, Großveranstaltungen absagen. Doch bis die Politik solche Maßnahmen umsetzt, vergehen Wochen.»
«(…) Ende Januar treten die ersten Fälle in Deutschland auf – die meisten mit einem milden Krankheitsverlauf. (…) Die ersten Infektionen in Deutschland hätten zu einem Trugschluss geführt: Seht, wir können es eindämmen.»
«Am 29. Januar, es gibt bereits weltweit Verdachtsfälle, kommt der Gesundheitsausschuss im Deutschen Bundestag zusammen. Das Thema Coronavirus ist Tagesordnungspunkt 5b – am Ende der Sitzung. (…) Von der ‹Risikoanalyse zum Bevölkerungsschutz› aus dem Jahr 2012 ist in dieser Sitzung laut Protokoll keine Rede. (…) Knapp zwei Wochen später, am 12. Februar, sagt Jens Spahn im Gesundheitsausschuss, die Gefahr einer Pandemie sei ‹eine zurzeit irreale Vorstellung›.»
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«[Am 26.] Februar klingt das in internen Runden dann anders. Früher als bisher bekannt, gibt es in der Bundesregierung Überlegungen zu einem Lockdown. (…) In vielen Ländern breitet sich das Virus inzwischen aus. Doch Deutschland feiert Karneval und Fasching. In Passau findet der Politische Aschermittwoch statt, mit Bier und Gedränge.»
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«Am 2. März kommt der Gesundheitsausschuss zu einer Sondersitzung zusammen. Es wird auch über die Absage von Großveranstaltungen diskutiert. (…) Bis zu einer Empfehlung des Ministers, Großveranstaltungen abzusagen, vergeht fast eine Woche. Am 11. März ruft die WHO den Pandemiefall aus.»
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«78 Tage sind vergangen von der ersten Meldung im Frühwarnsystem ProMED bis zu entschlossenen Maßnahmen: Großveranstaltungen abgesagt, Schulen zu, Geschäfte geschlossen. So wie es in der Blaupause von 2012 beschrieben steht.»
«Das Team des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel unter Leitung von Gabriel Felbermayr kam in seiner am 24. Mai veröffentlichen Studie zu dem Ergebnis: Statistisch könne man auf die Entfernung zu Ischgl zurückführen, dass 48 Prozent der Infektionsfälle in Deutschland von dem österreichischen Skiort ausgegangen seien. Keine andere ‹Superspread Location› habe einen derartigen Einfluss auf die Infektionsrate in Deutschland gehabt.»
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«Die ‹eher langsame Reaktion auf die Corona-Infektionen in Ischgl› sei fatal gewesen. Am 5. März hatte Island als erstes europäisches Land den Skiort als Risikogebiet eingestuft. Trotzdem seien erst neun Tage später Quarantäne-Maßnahmen eingeleitet worden, der komplette Lockdown sei noch später erfolgt. (…) So würden die Daten vom 20. März zeigen, dass in Dänemark ein Drittel und in Schweden ein Sechstel aller Infektionsfälle auf zurückkehrende Skiurlauber aus Ischgl zurückzuführen gewesen sei.»
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«Dass es nicht zu einer ungebremsten Ausbreitung der von zurückkehrenden Ischgl-Touristen betroffenen Regionen in Deutschland gekommen sei, habe einen nachgewiesenen Grund: Durch den Lockdown in Deutschland habe es die Mobilität nicht mehr gegeben.»
«Schon vor rund sechs Wochen seien er und seine Frau auf Corona getestet worden. Danach seien sie weiter zur Arbeit gegangen. Erst zwei Wochen später hätte ihnen jemand die Ergebnisse mitgeteilt: Popescus Frau war positiv. Warum die Auswertung so lange dauerte, kann er nicht verstehen. Auch nicht, dass es danach keine weiteren Tests gegeben habe, und auch keine Informationen. Am nächsten Tag seien er, seine Frau und die gesamte Schicht in Quarantäne geschickt worden. Seitdem habe sich niemand mehr bei ihm gemeldet. Auch andere Arbeiter sagen der SZ und der Beratungsstelle Faire Mobilität, dass es schon seit Längerem einzelne Corona-Fälle bei Tönnies gegeben habe.»
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«Häufig habe sein Arbeitgeber, wie bei Marius Popescu ein zwischengeschaltetes Subunternehmen, den Lohn manipuliert. Als Amariei die Firmenunterkunft verließ, sei trotzdem weiter Miete abgezogen worden. Wenn sie den Arbeitsplatz putzten, habe das nicht als Arbeitszeit gegolten. Amariei berichtet außerdem von ‹Fehlern› in den Lohnabrechnungen, die immer zugunsten des Arbeitgebers ausfielen. Regelmäßig hätten Stunden gefehlt, obwohl die Arbeitszeit doch per Finger-Scan beim Einchecken erfasst werde.»
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«Besonders empört seien die Betroffenen in Quarantäne jetzt über die Behauptung, sie seien am langen Wochenende verreist und hätten so bei ihrer Rückkehr das Virus eingeschleppt. De facto hätten viele gearbeitet: ‹Es gab kein langes Wochenende für die Fleischindustrie›, sagt Sepsi. ‹Die Aussage ist einfach falsch und sie schürt Rassismus.› (…) Amariei glaubt dagegen, Tönnies wie Laschet hätten die Schuld auf diejenigen abschieben wollen, die sich am leichtesten ersetzen ließen.»