«Alle Jahre wieder sehe ich mich der gleichen Debatte ausgesetzt. (…) ‹Wie hältst du es mit dem Unrechtsstaat?› Obwohl ich ebenso konsequent seit 20 Jahren ehrlich und klar darauf antworte, wiederholt sich diese Frage fast rituell immer wieder.»
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Nicht-Aufarbeitung des Nationalsozialsmus in der DDR
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«Einer der darin aktiv Verstrickten war der deutsch-ägyptische Kinderarzt Prof. Jussuf Ibrahim. Nach ihm waren Straßen und Kindergärten benannt und er war ein großer bedeutender Kinderarzt in der DDR. Erst im Jahr 2000 drang in die Öffentlichkeit vor, wie tief er in das mörderische Regime der NS-Zeit verstrickt war.»
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«Verwundert war ich allerdings, als ich […] feststellen musste, dass die Namen und die Verantwortlichen des Entjudungsinstituts, die Verwicklungen und die Verstrickungen alle dem Ministerium für Staatssicherheit bekannt waren und der Teil, der nicht in den Westen geflüchtet war, unbescholten in der DDR weiter leben konnte. Sie mussten sich offensichtlich zu keiner Zeit ihrer Verantwortung stellen, weder in der Kirche, noch vor DDR-Gerichten.»
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«Besonders spannend fand ich, als jemand der jetzt 30 Jahre in Erfurt leben, dass mir niemals die Dinge begegnet sind, die 1975 in unserer schönen Stadt Erfurt passiert sind. […] Es ist klar zu erkennen, dass es ausländerfeindliche pogromartige Ausschreitungen waren, die sich vom 10. bis zum 13. August direkt gegen algerische Vertragsarbeiter ereigneten. Erst wurden diese Vertragsarbeiter geholt, um sie in die Betriebe zu integrieren, denn Arbeit war genug da, aber zu viele Menschen waren gegangen. Diese Algerier wurden dann durch die Erfurter Innenstadt gejagt und mit Eisenstangen und Holzlatten attackiert. Selbst im Angesicht der Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen viele Jahre später, haben Erfurter Freunde von mir diese Ereignisse nicht erwähnt. Nicht, weil sie darüber schweigen wollten, sondern weil es überhaupt nicht bekannt war. Gerüchteweise oder da wo Augenzeugen da waren, ja, die hätten es erzählen können. Aber der Sicherheitsapparat der DDR und die Staatsdoktrin taten ihr Übriges, denn es konnte nicht geschehen sein, was nicht sein darf.»
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Nicht-Aufarbeitung des Nationalsozialsmus in der Bundesrepublik
«Seit rund 20 Jahren beantworte ich die Frage nach dem Unrechtsstaat DDR immer dahingehend, dass ich betone, dass ich das begangene Unrecht und das erlittene Unrecht in der DDR nie bestritten habe und nie bestreiten würde. Trotzdem verweise ich immer wieder auf den Juristen, der in Deutschland überhaupt erst diesen Unrechtsstaat als juristischen Begriff in die Judikative eingeführt hat. Schon seit 1853 geistert der Begriff hinlänglich durch die politische Debatte. Aber zur juristischen Formel wurde er erst 1963 in Frankfurt/Main. Der Generalstaatsanwalt von Hessen, Fritz Bauer, der als überlebender Jude und Volljurist in Westdeutschland aktiv am Wiederaufbau mitgewirkt hat, dieser Fritz Bauer musste beobachten und erleben, wie um ihn herum das juristische Personal als Richter und Staatsanwälte alltäglich Recht gesprochen haben, obwohl sie tief in der Schuld des NS-Regimes verstrickt waren.»
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«Fritz Bauers Name ist eben auch verbunden mit dem Eichmann-Prozess in Israel. Offensichtlich hat Fritz Bauer den deutschen Gerichten nicht getraut und wie er es dann auch in Interviews erzählt hat zu Recht. Als dann Fritz Bauer Namenslisten von Auschwitz-Aufsehern zugespielt wurden, gab es die nächste Runde, um sich der juristischen Aufarbeitung und damit der konkreten Verantwortung zu entledigen. Lediglich der hessische Ministerpräsident Georg-August Zinn (SPD) stärkte Fritz Bauer den Rücken, aber er traf auf den Widerstand von Konrad Adenauer und seinem Chef des Bundeskanzleramtes, Hans Globke. […] Hans Globke war immerhin Mitautor der NS-Rassegesetze und all dem, was mit den schrecklichen Nürnberger Gesetzen an Voraussetzungen geschaffen wurde, um später jüdische Menschen ins Gas zu deportieren.»
«Da sich aktuell aber auch die FDP an mir abarbeitet und das Thema Unrechtsstaat für sich entdeckt, sollte ich noch erwähnen, dass der Bundesjustizminister von 1962 bis 1965 Ewald Bucher hieß und von der FDP gestellt wurde. Man kann sich fragen, was die Freien Demokraten 1962/63 getan haben, um Fritz Bauer zu unterstützen, oder ob sie es wie Adenauer gehalten haben, es lieber mit dem Mantel des Schweigens zu überdecken. Wie auch im Übrigen erwähnt sei, dass am 11. August 1990 die DDR-Blockpartei LDPD in die FDP aufgegangen ist und damit die heutige FDP ebenso rechtsidentisch für eine Blockpartei einstehen müsste.»
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Fortgeltung des DDR-(Un)recht in der Bundesrepublik
«Die Eltern von zwangsadoptierten Kindern in der DDR erhalten bis heute die Adoptionsakten ihrer Kinder nicht ausgehändigt. Bis heute wissen sie nicht, wo ihre Kinder sind und die Kinder wissen nicht, dass die leiblichen Eltern leben.»
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«Bei den Aktionen ‹Kornblume› und ‹Ungeziefer› wurden willkürlich Menschen im Grenzgebiet der DDR-Staatsgrenze aus ihren Häusern vertrieben. […] Allein die beiden Decknamen machen deutlich, wie zynisch dieser Vorgang zu bewerten ist, denn diesen Menschen das Wort Ungeziefer zuzuordnen, entspricht original dem NS-Sprachgebrauch. Diese Menschen wurden ins Landesinnere gebracht und an den Orten, wo man die LKW’s wieder ablud, hatte man Wochen vorher schon den Nachbarn erzählt, dass es sich um lichtscheues Gesindel handelt, die mit dem Gesetz über Kreuz liegen würden. […] Die Menschen, die im Grundbuch eingetragen waren, bekamen nach den Entschädigungsregeln der DDR eine Summe zuerkannt, die nach den Regeln der DDR natürlich in keinerlei Relation zum eigentlichen Wert stand und nach 1990, als die Menschen versuchten ihr Eigentum wieder zurück zu bekommen, erlebten sie auf einmal, dass die DDR-Rechtsetzung als Grundlage für die Neuberechnung von möglichen Entschädigungen zugrunde gelegt wurde. In einer weiteren Fallkonstellation wurden damit sogar höhere dreistellige Millionenbeträge neu zugeordnet. Die sogenannten Mauergrundstücke in Berlin waren natürlich zwischenzeitlich Millionenvermögen und darum entwickelte sich ein riesiges Gezerre. Offenkundig wollten genügend Interessenvertreter an diesen Mauergrundstücken partizipieren. Bei den Zwangsausgesiedelten war es aber so, dass sie meistens ihr eigenes Eigentum nicht zurück bekamen oder die Häuser im Zuge der Grenzsicherung längst abgerissen waren.»
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«Für mich ist es deshalb umso verwunderlicher, wie schnell ich aus konservativ oder liberaler Ecke angegriffen werde, wenn ich das Thema juristische Formel Unrechtsstaat thematisiere und die gleichen, die mich angreifen, ohrenbetäubend schweigen, wenn es um das begangene Recht der Eltern der Zwangsadoptierten und der Zwangsausgesiedelten geht. Hier hätte ich mir fünf Jahre lang ebenso lautstarke Mitstreiter gewünscht, damit den Menschen, um deren Schicksal es geht, die tatsächlich Unrecht in der DDR erlitten haben, nicht mit dem heutigen westdeutschen Recht gehindert werden, ihr Unrecht aufgearbeitet zu bekommen.»
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«Es gibt sogar rechtliche Übergangsprobleme, die mit dem Einigungsvertrag zementiert worden sind und auf ganz unspektakuläre Art und Weise im DDR-Rechtssystem entstanden sind. Die Frauen, die Ende der Achtziger Jahre ihre Scheidung eingereicht haben und vor 1990 auf gültigem DDR-Recht ein Scheidungsurteil bekamen, erlebten nach dem Beitritt in die Bundesrepublik, dass der Rentenausgleich auf Basis des DDR-Rechtes zu vollziehen ist, obwohl der Rentenfall wesentlich in der Bundesrepublik Deutschland eintritt. Ebenso gab es Ehefrauen, die hart und intensiv in den eigenen Familienbetrieben gearbeitet haben. Die sogenannten mithelfenden Ehefrauen waren in DDR-Recht rentenberechtigt für die erarbeiteten Ansprüche des Familienbetriebes. So eine Konstruktion gab und gibt es in Westdeutschland nicht. Auch diese Frauen mussten erleben, dass sie am Beitrittstag noch einen gültigen DDR-Rechtsanspruch hatten, der am Tag des Beitritts im westdeutschen Recht untergegangen ist. Man kannte solche Fallkonstellationen nicht. Deswegen gab es auch keine Regelungen dafür. 30 Jahre später erleben sowohl die mithelfenden Ehefrauen, als auch die DDR-Geschiedenen, dass sie entnervt und ohnmächtig zuschauen müssen, wie ihre Ansprüche immer wieder als berechtigt angesehen werden, aber leider leider nach westdeutschem Recht keine Gerechtigkeit hergestellt werden könnte. An dieser Stelle müsste es eine politische Entscheidung geben, denn Rechtsüberleitungen sind eben nicht ohne Tücken.»
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«Unrechtsstaat»
«Anzuerkennen, was Menschen empfinden, und die Empfindung des Unrechtsstaates ist für jeden, der Unrecht erlebt hat, eine sehr lebendige Empfindung. Die Form allerdings, wie das empfundene Unrecht instrumentell benutzt wird, ist das was ich kritisiere und warum ich mich verweigere, den juristischen Begriff zu übernehmen, da sich die Bundesrepublik Deutschland weigert, heute, 30 Jahre nach der Grenzöffnung, bestehendes Unrecht aufzuheben. An diesem konkreten, immer noch fortwirkenden Unrecht muss man aber auch den Unrechtsstaatsbegriff messen. Die Eltern der Zwangsadoptierten, die Familien der Zwangsausgesiedelten, aber auch die geschiedenen und die mithelfenden Ehefrauen würden sich wünschen, wenn der Chor derer, die so laut von mir abverlangen, dass ich endlich das Bekenntnis ablegen soll und das Wort Unrechtsstaat als universellen Begriff für die DDR anwenden soll, wenn dieser Chor genauso laut dafür kämpfen und streiten würde, dass das konkrete Unrecht aufgehoben wird.»
«Und was den Umgang mit dem Unrecht der DDR anbetrifft, so geht es auch hier darum, dass wir uns konkret mit den Opfern und ihren Schicksalen befassen und für Aufklärung sorgen. So habe ich mich persönlich um die Aufklärung des Schicksals vom Matthias Domaschk bemüht, der 1981 in Stasihaft in Gera ums Leben gekommen war. Die genauen Umstände seines Todes konnten auch wir nicht aufklären aber niemand wird ernsthaft bestreiten, dass er ein Opfer von Unrecht und Diktatur wurde, dem unser Gedenken gelten muss. Und auch auf anderen Bereichen war und ist die Landesregierung tätig, etwa zum Thema ‹Umgang mit Christinnen und Christen in der DDR›. All das geht über bloße Bekenntnisse weit hinaus und wird auch von den Verbänden und Betroffenen durchaus anerkannt.»