«Fast jeder kennt das Milgram Experiment aus dem Jahr 1961. Der Psychologe Stanley Milgram wollte überprüfen, ob zufällig ausgewählte Personen bereit sind, auf Anweisung einer Autoritätsperson im weißen Kittel einen ihnen unbekannten Probanden mit Stromstößen zu traktieren, wenn dieser bestimmte Testfragen falsch beantwortet. Bei den Probanden handelte es sich um Schauspieler, die nur so taten als bekämen sie die Stromstöße. Ein großer Teil der ausgewählten Personen war nach leichtem Zögern dazu bereit, obwohl sie die Schmerzensschreie ihrer Opfer laut und deutlich hören konnten. Nicht wenige steigerten auf Anraten der Autoritätsperson die Spannung sogar auf bis zu 450 Volt.»
«Die übliche Erklärung für dieses erschreckende Verhalten lautet stark vereinfacht: Weil viele Menschen im Kern autoritätsgläubig sind, sind sie unter bestimmten Umständen bereit, ihr eigenes Gewissen über Bord zu werfen und stattdessen das zu tun, was eine Autoritätsperson von ihnen verlangt.»
«Es gibt jedoch noch eine andere Erklärung, die meines Wissens in diesem Zusammenhang nie ernsthaft in Erwägung gezogen wurde: Könnte es sein, dass eine Menge Menschen schlicht und einfach Gefallen daran finden, Macht und Gewalt über andere auszuüben ohne irgendwelche Sanktionen befürchten zu müssen? Dass es ihnen Lust bereitet, endlich mal am Drücker zu sitzen und anderen ihren Willen aufzuzwingen?»
«Wenn Sie diesen Gedanken absurd finden, dann surfen Sie einfach mal ein bisschen auf Facebook. Nach kurzer Zeit werden Sie eine Menge Postings und Kommentare von unbescholtenen Menschen mit netten Familienfotos finden, die keinen Hehl daraus machen, wie unnachgiebig und autoritär sie sich gegenüber anderen verhalten würden, wenn man sie nur ließe.»
«Die Decke unserer Zivilisation ist dünn. Wir sollten nicht der Illusion verfallen, dass der freundliche Nachbar, der uns zum Barbecue einläd, nicht bereit wäre, uns schon für so etwas Banales wie eine andere Meinung mit großem Vergnügen das Kabel vom Elektrogrill anzulegen.»