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Chronikbeitrag
Alexander Stannigel — hat einige Artikel geteilt:Montag, 27. April 2020
Wird langsam echt Zeit die sozialen Folgen des Lockdowns anzugehen. Im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Folgen hilft da nicht einfach mit Geld drauf zu werfen.
Jede/r fünfte Schüler/in wird durch die Schulschließungen und fehlende Homeschooling-Möglichkeiten gerade zurückgelassen
Hilfsorganisationen sind in ihrer Arbeit aktuell ziemlich eingeschränkt
Elternteile haben durch die Kinderbetreuung ein Drittel weniger Einkommen …
… oder sind seit Wochen durch die Doppelaufgabe Homeoffice und Kinderbetreuung/Homeschooling weit über der Belastungsgrenze
«Nach der Schulschließung musste auf einen Schlag der komplette Unterricht digital funktionieren. Das stellte nicht nur Lehrer vor eine Herausforderung, sondern auch viele Familien. (…) Für den Lernerfolg der Schüler ist der Zugang zu einem eigenen Computer in der aktuellen Krise enorm wichtig geworden. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine neue Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. (…) Deutlich weniger als die Hälfte der befragten 12- bis 14-Jährigen hat alleinigen Zugriff auf einen PC oder Laptop. Diese Kinder sind jetzt besonders benachteiligt.»
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«[In einer] Online-Umfrage der Elternkammer Hamburg, an der über 20.000 Eltern teilnahmen, [gaben] 18 Prozent an, dass die von der Schule geforderte Technik der Familie Probleme bereite. Und das, obwohl an der Umfrage überdurchschnittliche viele bessergestellte und technikaffine Familien teilnahmen. (…) Leihcomputer zum Beispiel gab es für Schülerinnen und Schüler […] jahrelang nicht, erst jetzt sind erste Computer verteilt worden.»
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«Laut einer repräsentativen Umfrage der Robert Bosch Stiftung sagen 37 Prozent der Lehrer, dass sie mit ‹weniger als der Hälfte› oder sogar nur mit ‹sehr wenigen Schülerinnen und Schülern› regelmäßigen Kontakt haben. Die Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft kommt zu dem Ergebnis, dass der digitale Unterricht vor allem für Schüler aus bildungsfernen Familien schwierig ist. Die Schulschließungen wirken sich demnach für die betroffenen Kinder ‹besonders negativ aus und können ihre Entwicklung in substanziellem Maße hemmen›, schreiben die Studienautoren.»
«Den Kindern, die keinen funktionierenden Computer haben und kein Handy, auf dem man PDF-Dateien lesen kann, fehlt es meistens an ganz essenziellen Dingen: Kleidung zum Beispiel, oder Essen, oder sogar das Betrachten von Orten, an denen es keine Plattenbauten gibt. Jahrelang hat Sozialpolitik das Leben dieser Kinder nicht verbessert. Stattdessen wurde ihnen der Aufstieg durch Bildung versprochen. Wenn sie sich nur genug anstrengen würden, gute Noten schreiben, Bücher lesen, dann könnten sie eventuell ‹der Armut entkommen›. Die Schule sollte alle gleich machen, weshalb man versäumte, die Leben der Kinder auch außerhalb der Schule zu verbessern. Man gab ihnen kostenlose Nachhilfe, kostenlose Mitgliedschaften in Vereinen, kostenlose Mittagessen in Schulen – und vergaß dabei völlig, dass es Kindern niemals gut gehen wird, wenn ihre Eltern arm sind. Dass die Ausgrenzung und die psychische Belastung, die aus Armut entsteht, jedes Kinderhirn sowieso verkümmern lassen.»
«‹Über Nacht ist das Hilfesystem in Deutschland zusammengebrochen, alle haben zugemacht und keiner weiß mehr, an wen er sich wenden kann›, sagt Bernd Siggelkow, der [das christlichen Kinder- und Jugendhilfswerk Arche] vor 25 Jahren gegründet hat. Vor dem Beginn der Coronakrise unterstützte und versorgte die Arche deutschlandweit bis zu 4500 Kinder täglich. Doch seit Mitte März sind alle 27 Standorte auf unbestimmte Zeit geschlossen.»
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«Die Ausgangsbeschränkungen treffen finanzschwache Familien besonders schwer. Die kostenfreien Mahlzeiten in Schulen, Kindergärten und Jugendzentren fallen weg. Nun müssen viele Eltern ihre Kinder ganztags versorgen und gleichzeitig ihr Sozialleben auf engstem Raum organisieren. (…) Die Kinderrechtsorganisation appelliert an den Staat, die sozialen Hilfen und Beratungssysteme aufrechtzuerhalten. ‹Es darf nicht sein, dass mit der Verringerung der Zahl der Ansteckungen die Zahl der Kinderschutzfälle steigt›, sagt Melike Yar von Save the Children (…)»
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«‹Du kommst in Geschäfte und da kosten die Nudeln plötzlich 85 Cent statt 45 Cent. Das läppert sich.›»
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«Die Bildungschancen vieler Arche-Kinder werden in den nächsten Wochen weiter sinken. Sie haben ungleich schlechtere Lernbedingungen als viele Altersgenossen. In beengten Wohnverhältnissen ohne eigenen Schreibtisch ist an konzentriertes Lernen kaum zu denken. Viele Eltern möchten helfen, können aber nicht, weil ihnen die Grundlagen oder Sprachkenntnisse fehlen. ‹Studien aus den USA zeigen, dass lange Schulschließungen, die es dort aufgrund der bis zu dreimonatigen Sommerferien gibt, die sozialen Ungleichheiten vergrößern›, sagt Sozialwissenschaftler Marcel Helbig, der als Professor für Bildung und Soziale Ungleichheit an der Universität Erfurt arbeitet, ‹je länger die Schließungen dauern, desto größer können die Ungleichheiten werden.›»
«Sie zerreiben sich zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung und fallen abends todmüde ins Bett. […] Wenn ‹da draußen› die Geschäfte wieder öffnen und das Leben so langsam neu in Schwung kommt, sitzen Eltern mit ihren Kleinkindern weiterhin zu Hause und versuchen, der Arbeit und dem Nachwuchs so gut es geht gerecht zu werden.»
«Und das ohne Perspektive: Kitas müssten noch ‹sehr lange› geschlossen bleiben, sagte der [hessische] Ministerpräsident am Mittwochabend und verwies auf die hohe Ansteckungsgefahr unter Kleinkindern. Die Wahrheit ist aber auch: Es geht einfach nicht monatelang so weiter. Die Arbeit wird immer lauter rufen, die Kollegen werden weniger nachsichtig sein, die Chefs auch, der Jahresurlaub ist aufgebraucht, die Stimmung sinkt.»
«Die Höhe der Entschädigung beträgt 67 Prozent des Netto-Verdienstausfalls; für einen vollen Monat wird jedoch höchstens ein Betrag von 2.016 Euro gewährt, selbst wenn dieser Betrag unterhalb der 67 Prozent-Grenze liegt. Gezahlt wird die Entschädigung für längstens 6 Wochen.»
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«Arbeit von Zuhause soll nach der Gesetzesbegründung als ‹zumutbare Betreuungsmöglichkeit› gelten. Beschäftigte, denen Arbeit von Zuhause zumutbar ist, werden von dem Recht auf Entschädigung ausgeschlossen. Bei Kindern im Kita- und Grundschulalter kann wohl kaum davon die Rede sein, dass Arbeit von Zuhause und Kinderbetreuung gleichzeitig möglich sind. (…) Gerade die Doppelbelastung durch Homeoffice und Kinderbetreuung ist für Eltern von kleineren Kindern eine wahre Zumutung – erst recht wenn sie über Wochen andauert.»
«Die Soziologin Nina Weimann-Sandig von der Evangelischen Hochschule Dresden warnt davor, dass es für Eltern zunehmend schwerer werde, berufliche, schulische und private Verpflichtungen aller Familienmitglieder unter einen Hut zu bringen. Sie ist sich sicher, dass die Coronazeit langfristige negative Auswirkungen auf das Familienleben im Freistaat haben wird. ‹Meine Hypothese ist, dass sich viele Familien mittlerweile am Rande eines Burn-out befinden. Das verursacht auf Dauer schwerwiegende gesundheitliche Probleme›, sagt sie.»
«Einer der Gründe für die anhaltende Überforderung: Während durch die Lockerungen der Coronabeschränkungen die Betriebe schrittweise wieder öffnen, bleiben Schulen und Kitas vorerst weitgehend zu. Folglich steigt die Belastung für den Elternteil, der weiterhin von zu Hause aus arbeitet.»
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«Gleichzeitig gab ein Drittel der Eltern schulpflichtiger Kinder an, das geforderte Unterrichtspensum kaum noch mit den Kindern bewältigen zu können. Zu Beginn der Befragung lag dieser Wert bei rund 25 Prozent. Kinder aus sächsischen Familien, in denen die Eltern ein eher niedriges Bildungsniveau haben, leiden besonders stark. So sind rund zwei Drittel der Eltern ohne Schulabschluss und die Hälfte mit Hauptschulabschluss mit dem Homeschooling voll oder eher überfordert. Unter den Teilnehmern mit Hochschulabschluss ist es nur etwa ein Drittel.»