«Während Einzelhändler, Fußballklubs oder Hoteliers in der Corona-Krise lautstark – und durchaus erfolgreich – für sich getrommelt haben, fiel es Familien bislang deutlich schwerer, ihre Interessen oben auf der Agenda der Krisenmanager zu platzieren. Nun aber haben Kinderärzte einen Teil der Lobbyarbeit für die vulnerable Gruppe der Kleinsten übernommen: In einem gemeinsamen Papier forderten unter anderem der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin am Donnerstag eine rasche Öffnung der Kitas und Schulen ‹ohne massive Einschränkungen›, also ohne Kleinstgruppen und Abstandsgebote, lediglich in festen Gruppen und Klassen.»
«Ja, die Schulen sind wieder geöffnet. Viele Grundschüler aber gehen nur einen Tag in der Woche für wenige Stunden in die Schule. Weil an den anderen Tagen gerade bei den Kleineren mitnichten echter Onlineunterricht stattfindet, ist das letztlich nur eine ziemlich klägliche Simulation von Schule, die Kindern und Eltern unverhältnismäßig viel abverlangt. Auch viele Kita-Kinder sind nach wie vor zu Hause, mittlerweile seit vielen Wochen.»
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«Deshalb halten die Mediziner es für ausreichend, stabile Gruppen zu bilden, die sich nicht mit anderen Gruppen mischen. Die schiere Gruppengröße, derzeit ein Fixpunkt aller Schul- und Kitahygienepläne, halten sie dagegen für weniger entscheidend. Während Sachsen ein solches Modell in den Grundschulen seit dieser Woche praktiziert, gehen am anderen Ende der Lockerungsskala die Gegner einer weiteren Öffnung auf die Barrikaden.»
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«Ein Null-Risiko-Umfeld lässt sich nirgendwo schaffen, wo gelockert wird. Besonders angestrengt sind die Versuche aber ausgerechnet in den Schulen und Kitas. Das ist nicht fair, sagt aber eine Menge über den Stellenwert, den Kinder in einer Gesellschaft haben. Die Suche nach einem anderen Weg, der vielleicht ein etwas höheres, aber immer noch kalkulierbares Risiko mit sich bringt, ist nicht verantwortungs- und rücksichtslos, sondern das genaue Gegenteil. Erwachsene bewegen sich jetzt in einem Umfeld, in dem sie sich im Biergarten treffen dürfen und es kaum erwarten können, im Sommer im Hotel ihrer Wahl einzuchecken. Es ist es höchste Zeit, auch in Kindern wieder mehr zu sehen, als ein epidemiologisches Risiko.»
«Es scheint nun aber ein Wendepunkt erreicht zu sein, an dem das als Möglichkeit in den Raum gestellte apokalyptische Szenario einer Pandemie mit Millionen Toten, die der Staat verhindern muss, durch eine individuelle Risikokalkulation abgelöst wird. Die Verantwortung der Virus-Prävention wird immer mehr auf den Einzelnen übertragen. Einfach zu Hause bleiben genügt nicht mehr. Es wird darauf ankommen, aktiv im Alltag, im Büro und im Biergarten auf sich und andere achtzugeben.»
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«Es gibt längst nicht mehr so viele Unsicherheitsfaktoren wie noch vor einigen Wochen. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion lässt sich schon mit einfachen und wenig invasiven Maßnahmen wie Abstand, Hygiene, Durchlüften und dem Tragen von Masken verringern. (…) Das individuelle Risiko einer Infektion ist also durch die Erfahrungen der letzten Wochen durchaus kalkulierbar geworden, so wie auch der Umgang mit den Gefahren des Straßenverkehrs oder die Verhinderung der Ansteckung mit anderen Krankheiten gelernt worden ist. So wurden zum Beispiel […] durch Verhütungsmethoden bei sexuellen Kontakten gesamtgesellschaftliche Präventionsmaßnahmen getroffen. Sexuelle Kontakte wurden nicht eingeschränkt, sondern die Verantwortung muss je individuell getragen werden – für sich und für andere.»