«[…] Nach und nach melden sich die üblichen Redner zu Wort, und alle, wirklich alle argumentieren in die gleiche Richtung. Alle vertreten sie eine Meinung, die stark mit der eigenen Überzeugung zum fraglichen Thema kollidiert. Tja, und da sitzt man dann und fühlt sich wie ein Geisterfahrer auf der Autobahn der Einigkeit. Erst später im Einzelgespräch mit Kollegen in der Kantine oder am Kopierer stellt sich heraus: Stimmt ja gar nicht. Offenbar sehen sehr viele die Sache anders, sie sagen nur nichts, weil sie sich in großer Runde mit ihrer Meinung genauso einsam fühlen.»
«Sozialwissenschaftler nennen dieses Phänomen ‹pluralistische Ignoranz› oder ‹kollektive Illusion›»
(…)
«Pluralistische Ignoranz kann sich aus vielen Quellen speisen, nicht nur aus dominanten Narrativen. Besonders häufig stellt sich dieses Phänomen ein, wenn es um heikle Themen geht. Dann mit Kritik aus dem scheinbaren Konsens auszubrechen, wagen nur wenige: Sie könnten sich blamieren oder schlimmere Konsequenzen erdulden müssen. So kann es passieren, dass eine laute, aggressive Minderheit den Eindruck erzeugt, sie repräsentiere die Mehrheit – nur weil sich verschreckte Gegenstimmen nicht aus der Stille wagen. Im Extremfall setzen sich dann in Gruppen Meinungen oder Entscheidungen durch, die fast jeder der Beteiligten ablehnt. Und alle fühlen sich gemeinsam einsam.»