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Chronikbeitrag
Alexander Stannigel — neugierig.Donnerstag, 7. September 2017
Huch, nach 25 Jahren wird von offizieller Seite aus begonnen, die Deindustrialisierung der Neuen Bundesländer durch die Treuhand und deren Folgen aufzuarbeiten.
«Seitdem trifft Köpping Bergleute und Krankenschwestern, deren Rentenbeiträge aus der DDR heute nicht mehr anerkannt werden, sie sitzt mit Künstlern zusammen, die nach der Wiedervereinigung in Existenznot gerieten, spricht mit in der DDR geschiedenen Frauen, die heute vielfach in Altersarmut leben, weil es keinen Versorgungsausgleich gab. In Leipzig erzählen ihr DDR-Eisenbahner, wie ein Werk nach dem anderen im Osten dichtgemacht wurde, nachdem die Bundesbahn übernahm. Noch mehr aber regt sie auf, dass ihre Betriebsrenten, für die sie Beiträge zahlten, ‹einfach weggewischt› wurden. Stattdessen verkaufte die Bundesbahn die Filetgrundstücke der Reichsbahn in Ost-Berlin und füllte mit dem Erlös ihre gähnend leere Pensionskasse auf. Das Nachsehen hatten die Ost-Bahner, die keinen Anspruch darauf haben.»
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«Oft war das nur Oberfläche, oft redeten die meisten nach zwei, drei Sätzen nicht mehr über Flüchtlinge, sondern begannen, ihre eigene Lebensgeschichte zu erzählen, was sie früher geleistet haben, wie sie arbeitslos wurden, sich über Wasser hielten. ‹Viele Menschen haben den Bruch nach 1989 noch nicht verarbeitet›, sagt Köpping. Sie hegten großes Misstrauen, wie mit ihnen und ihren Betrieben umgegangen, wie ihre Lebensleistung entwertet wurde. ‹Das überträgt sich bewusst und unbewusst auch auf das demokratische System.› Davon profitierten Pegida und die AfD.»
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«Die 6000 Mitarbeiter des Dresdner Kamerawerks Pentacon etwa erfuhren am Tag der Wiedervereinigung, dass die Treuhand ihren Betrieb liquidiert. Während Deutschlands Zukunft gefeiert wurde, standen sie von heute auf morgen vor dem Nichts. Und das war nur die erste von Hunderten Massenentlassungen, die binnen weniger Monate folgten. Es war eine bis heute beispiellose Deindustrialisierung ganzer Landstriche. ‹So etwas›, sagt Petra Köpping, ‹hat es im Westen nie gegeben.› Die Mitarbeiter in Großdubrau traf es acht Wochen nach der Einheit, am 5. Dezember 1990. An diesem ‹schwarzen Tag›, wie sie das Datum nennen, wurde ihnen mitgeteilt, dass ihr Werk geschlossen wird. Offizielle Begründung: Es gebe im Westen genug Betriebe, die Isolatoren herstellten.»
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«Sie hatten Ideen, und keine Partei konnte sie mehr verhindern. Doch die Treuhand habe in Verbindung mit dem SED-Betriebsleiter all ihre Initiativen abgewürgt. Als Mitarbeiter den Betrieb selbst übernehmen wollten, habe man sie ausgelacht. Sie kämpften, sie protestierten, aber dann standen sie alle auf der Straße – bis auf den Direktor, der bei der West-Konkurrenz unterkam. Dass die schließlich 70 der neuesten Maschinen abholte, konnten sie mit der Besetzung des Werktores nur ein paar Tage lang verhindern. Selbst der Tresor mit geheimen Produktionspapieren und Keramikrezepten wurde mitgenommen.»
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«[Generalsekretär Michael Kretschmer:] ‹Statt negative Stimmung zu verbreiten, sollten wir lieber sagen: Wir haben viel erreicht, und es ist heute besser als in der DDR.› Ministerpräsident Stanislaw Tillich soll gar versucht haben, Köpping das Thema zu entziehen. Sie aber beharrt darauf. ‹Ich bin für Demokratieförderung zuständig, und ich nehme meinen Job ernst›, sagt sie. ‹Ich habe mir das Thema nicht ausgesucht, es ist zu mir gekommen. Aber jetzt gebe ich keine Ruhe. Ihr fragt, warum der Osten so tickt, wie er tickt. Wenn ihr das wissen wollt, müssen wir diese Geschichten aufarbeiten.›»